Ayurveda-Yoga lehrt uns, wie wir typgerecht Yoga praktizieren um erhöhte Energieanteile zu reduzieren und wieder in unsere Mitte kommen. Nicht jede Yogaübung ist für jede Konstitution gut. Von Stefan Geisse, Yogatherapeut und Ayurveda-Berater.
In meinen Yogaklassen beobachte ich immer wieder, wie Teilnehmer entweder sehr verbissen und teilweise verkrampft üben, während andere sich schwertun, aus ihrer Komfortzone herauszutreten um sich mehr anzustrengen. Andere wiederum verwechseln häufig die Seite und schauen hilflos in der Runde herum und fragen sich, warum jetzt ihr linkes Bein vorne steht während alle anderen ihr rechtes vorne haben.
Der Ayurveda, die Jahrtausendealte Wissenslehre aus Indien sieht den Menschen als einzigartiges Individuum. Jeder hat spezielle Fähigkeiten und Stärken und auch Potentiale für seine persönliche Entwicklung. Der Grund liegt –vereinfacht gesprochen – in den Elementen, die die Natur und somit uns prägen.
Ayurveda-Yoga: Im Einklang mit der eigenen Konstitution leben
Die Ayurvedische Lehre ordnet dabei bestimmte Elemente, die für gewisse Funktionen im Körper zuständig sind. Er nennt dies Doshas, wörtlich „Verunreinigung“ oder „das was Probleme verursachen kann.“. Die Doshas verleihen dem Menschen seine individuelle Konstitution, und sie regulieren seine körperliche und geistige Funktion (zusammen mit den feinstofflichen Prinzipien der Gunas). Jeder Mensch wird danach mit einer ihm eigenen Konstitution (Prakriti), also einer ihm eigenen Mischung aus drei Doshas geboren.
Wenn deren Gleichgewicht durch falsche Ernährung, unpassenden Lebensstil usw. ins Ungleichgewicht gerät, entsteht ein unnatürlicher, potentiell krank machender Zustand (Vikriti). Ich benutze in meinen Vorträgen und Beratungen gerne als Erklärung das Wort „Ordnungsprinzip“, was auch Menschen ohne Kenntnisse der indischen Philosophien einen leichten Zugang zu dem Gedanken der Doshas ermöglicht. Ayurveda-Test machen.
Schwere und Stabilität durch Erde und Wasser: Das Ordnungsprinzip Kapha
Die Elemente Erde und Wasser sind in ihrer Eigenschaft laut ayurvedischer Lehre schwer, stabil, unbeweglich, kalt, feucht, schleimig aber auch mild und weich. Diese Eigenschaften schenken dem Körper Stabilität, Widerstandkraft und Kraft. Unser Bewegungsapparat mit seinen Knochen, Muskeln, Gelenken, Sehen und Bändern wird vorwiegend diesem Ordnungsprinzip zugeordnet. Der Ayurveda nennt es Kapha.
Menschen, die nun zu viel von diesen Eigenschaften besitzen in dem sie sich zum Beispiel zu schwer, süss und klebrig ernähren, zu fest in ihrem Lebensstil verankert sind und kaum Veränderung zulassen (können) oder sich auch nicht ausreichend Bewegen, neigen dazu auch in ihrer Yogapraxis diese Eigenschaften zu leben. Sie lieben einfache Asanas ohne grosse Anstrengung, praktizieren am liebsten YinYoga und sehnen sich in ihrer Yogapraxis der Endentspannung herbei.
Doch genau diese Yogapraxis erhöht weiter Eigenschaften wie schwer, unbeweglich, weich usw. Also Ihr Dosha Kapha wird weiter erhöht, was kontraproduktiv ist und im schlimmsten Fall (zusammen mit ihrer Ernährung und Lebensweise) zu Krankheiten führen kann.
Tipp: Ayurveda-Yoga für die Kapha Konstitution
Ist Kapha besonders ausgeprägt, fehlt es vor allem an Beweglichkeit, Leichtigkeit und Schnelligkeit. Betroffene müssen sich im Yoga daher regelrecht zwingen in die Bewegung und Anstrengung zu kommen, ein motivierender Yogalehrer ist hier essentiell. Durchhaltevermögen und Ausdauer sollen intensiv und in ausgewogenem Verhältnis trainiert werden um den Stoffwechsel anzuregen. Die Atemübungen sind vorwiegend anregend und erhitzend.
Asanas: Parivrtta Utkatasana, Surya Namaskar, Phalakasana, Navasana
Pranayama: kraftvolle Einatmung, Bhastrika, Kapalabhati
Visualisierungen und Meditation: Agni (Verdauungsfeuer), innere Sonne
Chakra: Manipura-Chakra
Tipp: Ayurveda-Yoga für Pitta-Konstitutionen
Ist Pitta erhöht, fehlt es vor allem an Stabilität und innerem Gleichgewicht. Menschen mit hohem Pitta-Anteil sind ständig damit beschäftigt, die überschüssige Energie abzubauen. Sie lieben und benötigen Bewegung. Kühlende, beruhigende und ausgleichende Atemübungen helfen beim Stressabbau. Sie lernen im Yoga, ihre hohe Energie und ihren Ehrgeiz zu beherrschen. Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit werden in ausgewogenem Verhältnis und achtsam geübt. Herzöffnung, ausreichende Entspannung und Regeneration ist wichtig.
Asanas: Apanasansa, Bharadvaiasana, Halasana, Balasana, Ashta Chandrasana
Pranayama: Bhramari, Shitali, Chandra Bhedana
Visualisierungen und Meditation: innere Achse, Herzraum, Mond, Metta-Meditation
Chakra: Anahta-Chakra
Tipp: Ayurveda-Yoga für die Vata Konstitution
Ist Vata zu sehr ausgeprägt, fehlt es vor allem an Stabilität, Wärme und Ruhe. Das Nervensystem ist sehr empfindsam und reagiert sehr leicht auf Stress, die psychische und physische Belastbarkeit ist gering. Die Yogapraxis fokussiert sich auf das Üben von Kraft, Stabilität und Ausdauer. Die Atemübungen sind wärmend, stoffwechselaktivierend oder ausgleichend. Eine gute, lange Entspannung und Regeneration ist wicht, wobei man Vata manchmal zur Ruhe fast zwingen muss.
Asanas: Vairasana, Tadasana, Vrkasana, Virabhadrasana I – III, Garudasana, Shavasana
Pranayama: Betonung der Ausatmung, Bauchatmung, Bhramari, Nadi Shodana
Visualisierungen und Meditation: Wurzel, Herzraum, Drittes Auge, Metta-Meditation
Chakra: Muladhara-Chakra
Kapha benötigt Schwung
Die Konsequenz: Teilnehmer in meinen Yogaklassen, die ein ausgeprägtes Kapha Dosha ausweisen, dürfen sich etwas mehr anstrengen. Ich fordere sie – liebevoll und achtsam – auf, noch tiefer in die Übung zu gehen, noch tiefer zu atmen. Fliessende Bewegungen wie etwa der Sonnengruss tut ihnen gut, um wieder in Schwung zu kommen, ebenso aktivierende und energetsierendes Pranayam. Das mögen Kapha geprägte Konstitutionen nicht.
Haben sie sich jedoch einmal überwunden, spüren sie die wohltuende und energetisierende Kraft die ihnen diese Praxi schenkt. Ihr Körper ist aufgeladen, die oft bleierne Schwere weicht, sie haben mehr Schwung. Die Sprache ist dabei für mich als Yogalehrer wichtig: Da ihre Eigenschaften u.a. weich, mild, klebrig und schwer ist, bringe ich etwas „Pfeffer“ in meine Sprache. Nicht mitleidig und süsslich, sondern motivierend und etwas aufstachelnd. Aber immer empathisch und mitfühlend.
Zuviel Feuer überschreitet Grenzen
Das Element Feuer ist heiss, scharf, sauer, spitz-durchdringend und durch den geringen Wasseranteil dem das zweite Ordnungsprinzip hat, sind diese Konstitutionen in ihrer Eigenschaft auch flüssig und etwas ölig.
Der Ayurveda nennt dieses Dosha Pitta, es schenkt uns Energie, Durchsetzungskraft und steuert u.a. den Stoffwechsel. Ist es erhöht (z.B. durch einen fordernden Job, scharfes und saures Essen, viel Alkohol, eine aggressive Umgebung usw.) neigen Menschen mit einem erhöhten Pitta zu viel Ehrgeiz und überschreiten oft dabei ihre Grenzen und die von anderen (das feinstoffliche Prinzip Rajas auf mentaler Ebene ist dabei ebenso oft besonders ausgeprägt).
In meinem Yogaunterricht zeigt sich dabei oft, dass sie alle Übungen besonders gut, ja perfekt machen wollen, getrieben vom Glauben immer vorne dabei sein zu müssen. Nicht selten sind sie überkritisch sich selbst als auch anderen gegenüber – und zweifeln gar an den Fähigkeiten des Lehrers. Sie halten die Übung länger als ihnen guttut: ihr ganzer Körper zittert, der Atem wird gepresst und Schultern-Nackenpartei sind oft sehr verspannt. Und doch hören sie erst auf, wenn alle bereits in Balasana, der Stellung des Kindes liegen. Gewonnen!
Pitta benötigt gemässigte Herausforderung und ein geöffnetes Herz
Pitta Konstitutionen haben sehr viel Energie, Kraft und einen grossen Willen. Sie benötigen physischen Anstrengung, jedoch in einem gemässigtem und kontrollierten Rahmen. Sie dürfen lernen, sich wieder mehr zu spüren, mehr auf ihre eigenen Grenzen zu achten. Ich fordere feurige Konstitutionen in meinen Yogastunden, achte aber auch auf genügend Ausgleich und Ruhephasen. Wenn sie „nur“ in die Entspannung gehen würden, fühlen sie sich nicht wohl.
In ihrer Yogapraxis üben sie sich in einer „kraftlosen Anstrengung“ (sthira sukham asanam – YS 2.46f). Ich lade Pitta ein, sich anzustrengen und gleichzeitig an Körperpartien, an denen er Anspannung und Druck verspürt, weicher zu werden. Meistens sind dies die Schulter-Nacken-Bereich, Kiefer/Wangen und nicht selten der untere Rücken auf dem viel Druck lastet.
Was jedoch Pitta auf jeden Fall benötigt ist Selbstliebe. Da dieses Ordnungsprinzip ständig im Kampf und nie zufrieden ist und sich immer vergleicht, benötigen Betroffene Anerkennung und Wertschätzung. Pitta glaubt, diese durch harte Arbeit zu erhalten, bekommt sie jedoch selten. Die Folge: Er gibt sich noch mehr Mühe, arbeitet noch mehr und härter. Und scheitert wieder.
Durch den Yoga lernt Pitta, sich selber anzunehmen wie er ist und ein Gefühl der liebevollen Güte (YS 1.33 Brahmaviharas) zu entwickeln. Dies leite ich u.a. durch Rückbeugen / Herzöffner an, zudem zitiere ich philosophische Schriften und Gedanken zur Reflexion (da Pitta sehr intelligent ist und eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, darf er auch intellektuell gefordert werden; Als ich mich selbst zu lieben begann).Dabei achte ich auf eine ernsthafte Sprache und ein Auftreten auf Augenhöhe. Nichts ist Pitta mehr zu wieder als eine zu kuschelige Atmosphäre und wenn jemand ein Gefühl der Schwäche vermittelt.
Stress, Hektik, zu viel Bewegung erhöht das Luft- und Raum-Element
Die sehr subtilen und feinen Elemente Luft und Raum (auch als Äther bezeichnet) bilden das Ordnungsprinzip Vata. Dieses hat neben der Feinheit u.a. Eigenschaften von kalt, rau, trocken, sehr beweglich, leicht. Vata wird dem Herz-Kreislaufsystem, Atem, Hormonsystem als auch im Gehirn- und Nervensystem zugeordnet.
In meiner Beratungspraxis mit hunderten von individuellen Konstitutionsanalysen beobachte ich sehr häufig aggraviertes, also erhöhtes Vata (unabhängig von der Urkonstitution, Pakriti). Dies ist nicht verwunderlich, erhöht unser durch Hektik und Schnelligkeit geprägter Lebensstil mit seiner heftigen Sinnnesüberreizung und massiven Bewegung (Pendeln, Emails, Social Media) doch kontinuierlich dieses Dosha. Viele meiner Klienten klagen über innere Unruhe, ständiges Grübeln, Sorgen, Ängste, Schlafstörungen und Verdauungsprobleme – klassische Anzeichen laut ayurvedischer Lehre von einem erhöhten Vata.
In meinen Yogastunden lässt sich zudem beobachten, dass „typische“ Vata-Konstitutionen (feiner Körperbau, dünnes Haar, fein geschnittene Gesichtszüge, schmale Handgelenke usw.) sehr gerne sich viel und schnell Bewegen. Sie lieben Vinyasa-Yoga, komplexe und kreative Asanas und ständig etwas Neues. Sie mögen Musik, fliessende Bewegungen und reden häufig auch viel vor oder gar während der Yogastunde. Sie nähren also stetig ihr Vata zu ihrem Nachteil.
Vata benötigt Ruhe, Struktur und Erdung
Meine Yogapraxis für Vata ist genau das Gegenteil: Langsame ausgeführte einfache Übungen mit bewusstem Einsatz des Atems. Die Monotonie in den Übungen beruhigt den unsteten Vata-Geist, nach und nach werden die Bewegungen ruhiger, langsamer und harmonischer. Ich lasse Vata lange in einer Asana verweilen (Achtung: Vata ist sehr sensibel und oft ausgezehrt und ist schnell überfordert!) um den Boden unter der Erde wieder zu spüren. Standübungen und auch das bewusste Setzen von Mula Bandha (Beckenbodenverschluss) sind essentiell für Vata. Dazu rezitiere oder singe ich Mantras um das leichte und spielerische Element in Vata zu befriedigen und dem Rauen und Trockenen mehr Wärme und Liebe zu schenken.
Wenn Vata sich mässig in der Yogastunde angestrengt hat, kann es sich auch beruhigen und in die Entspannung gehen. Sie haben durch ihre sehr leichten Elemente (welche im Chakra System dem Herz und Kehlkopf zugeordnet sind, also eher „nach oben gerichtet“ sind) auch gute Voraussetzungen zu meditieren. Jedoch benötigen sie hier klare Anleitung und Führung, sonst verlieren sie sich schnell in Gedankentraumreisen. Achtung: Meditation erhöht Vata, ich achte dabei immer auf eine gute Erdung und dass sie nach der Meditation wieder sicher in ihren Körper zurückfinden.
Über den Autor: Stefan Geisse ist Ayurveda-Berater für Ernährung, Lebensführung und Psychologie, Yoga- und Meditationslehrer und bei Remo Rittiner ausgebildet in Yogatherapie. Er ist zertifizierter Gesundheitscoach.
Stefan bietet regelmässig Retretas und Seminare zur Stressbewältigung an. In seinen Stress-Auszeiten in Klöstern, abgelegenen Bergdörfern oder auch am Mittelmeer lehrt er Yoga in der Tradition von Sri Krishnamcharya, der grossen Wert auf die individuelle Anpassung des Yoga an die Bedürfnisse des Praktizierenden gelegt hat (viniyoga).
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