Die zehn Archetypen der Vipassana-Meditation. Oder was ich noch alles lernen darf.

Gong. Es ist definitiv viel zu früh, die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Doch wenn ich jetzt nicht sofort aufstehe, sind alle Duschen besetzt und der Tag fängt mit noch mehr Stress an. Die kalte Dusche tut gut, ich erwache. Ah, ja, Achtsamkeit soll ich ja spüren. Später, ich muss jetzt schnell meine Zähne putzen.

Gong. Achtsame Körperübungen. Es tut gut, den Körper zu strecken, zu dehnen. Und ach ja, auch zu spüren.

Gong. Sitzmeditation. Alter Schwede, was geht denn da ab?

Gong. Frühstück. Endlich, ich verhungere! Der wirklich leckere Porridge rettet mir gerade mein Leben. Darf ich später nachspüren, wie das Kompott in all seinen Strukturen schmeckt und sich in seiner Konsistenz anfühlt?

Gong. Arbeitsmeditation. Ich versuche wirklich achtsam die Dusche zu putzen. Aber ich gestehe, es ist mehr ein Putzen als Meditation. Wenn ich schnell bin, kann ich mich noch ein paar Minuten hinlegen vor dem nächsten

Gong. Sitzmeditation. Jaja, ich komme ja. Drei Atemzüge. Dann ist mein Geist wieder ganz ganz weit weg. Komm, du schaffst fünf, Stefan! Bleib dran. Du bist Yogalehrer. Du meditierst seit zehn Jahren. Du hast viele schlaue Bücher gelesen. Du schaffst es. Ach so, ja, Atem beobachten. Stimmt.

Gong. Gehmeditation. Was? Es ist erst der erste Tag? Und noch nicht mal Mittag? Eine Woche soll das so weitergehen!?

Meditation ist nicht gleich Meditation

Die Vipassana-Meditation in der Buddhistischen Tradition ist für mich als Yogapraktizierender eine Hausnummer. Gemütlich auf dem Kissen für eine halbe Stunde bei Kerzenlicht Mantras rezitieren ist nicht ganz dasselbe wie eine Woche lang von früh morgens bis spät abends ernsthaft zu meditieren.

Würde man Fussgänger auf der Strasse fragen, was Meditation ist, würde wahrscheinlich irgendwas wie «im Schneidersitz sitzen und nichts denken» als geläufige Meinung herauskommen.

Die Lehren Buddhas als Zugang zur Meditation

Buddha sieht es etwas komplexer. Er spricht von vier Edlen Wahrheiten, die darauf beruhen, dass das Leben eine leidvolle Erfahrung ist. Er zeigt einem achtfachen Pfad auf, eben dieses Leiden zu überkommen.

Es geht irgendwie um ein Anatta, dem Nichts-Selbst. Dass keine Existenz ein festes, unveränderliches und unabhängiges Selbst hat.

Es geht um eine falsche Sichtweise beim Verlangen, um tiefes Loslassen. Und es geht um die vier Grundlagen der Achtsamkeit, wie körperliche Wahrnehmung, Gefühlstönungen, verschiedene Geistzustände und -objekte.

Es geht um die Wichtigkeit der inneren Ausrichtung, der Absicht und Motivation. Um Reflexion und Erkenntnis. Um Konzentration und Sammlung.

Und letztendlich um Freiheit. Freiheit vor unseren Gedanken. Und für die Profis unter uns, vor der leidvollen Widergeburt. Dem Entrinnen des Samsara und vermeiden von Anhäufung von Karma.

Das alles klingt mir in der Theorie weitgehend recht vertraut. Wurde Siddhartha Gautama, bevor er der Buddha wurde, ja auch in der hinduistischen und der Samkhya-Philosophie geschult. Auf deren Gedanken und Konzepte ja auch weitgehend «mein» Bewusstwerdungsweg in der Tradition des Raja-Yoga von Patanjali und der Bhagavad Gita beruht.

Die Hindernisse bei der Meditation

Alles egal. Denn jetzt gerade sitze ich auf dem Kissen und möchte einfach nur noch eines: Schlafen.

Eine bleierne Schwere macht sich breit, ich schaffe es kaum noch, den aktuellen Atemzug wahrzunehmen. Immer wieder döse ich ein. Nur das Zucken meines autonomen Nervensystems verhindert das Umfallen meines Körpers.

Zum Glück ist mein Lehrer gutmütig. Es ist kein strenges ZEN-Retreat, sondern wir meditieren in der tibetanischen Tradition. Ich darf aufstehen und im Stehen weiter meditieren. Doch die bleierne Schwere bleibt. Irgendetwas in mir lässt mich die nächste halbe Stunde stehen, ohne umzufallen.

Gong. Endlich! Gehmeditation. Selten habe ich mich darauf gefreut, eine dreiviertel Stunde lang andächtig ein Fuss vor den anderen zu setzen und dabei versuchen, so viel wie nur irgendwie möglich in meinem Körper achtsam wahrzunehmen – ohne mich ablenken zu lassen. Ach, so schön die schneebeckten Berge! Huch, da ist ja ein Lift! Ob ich mein Snowboard… der rechte Fuss berührt den Boden.

Auch hier kommen meine Gedanken nicht zur Ruhe. Stopp, es sind nicht meine Gedanken. Es denkt. Herrjeh. Und dazu noch all die Gefühle. Aggression. Wut. Tiefe Traurigkeit.

Ich versuche bei mir zu bleiben, doch ertappe ich mich, wie etwas in mir getriggert wird.

Plötzlich eine tiefe Erkenntnis. Ich bin der neue erwachte Buddha! Neben den fünf Hindernissen, die der originale Buddha aufzeigt, die unseren Weg zu uns selbst erschweren, gibt es ein weiteres Hindernis! (Neben der erwähnten Schläfrigkeit tölpeln bei mir noch Dinge wie Dumpfheit, Abgelenktheit und schwankende Motivation auf. Im Original spricht man Verlangen nach Sinneskontakt, Abneigung und Trägheit, Mattheit und Erstarrung, Unruhe und Sorge, Zweifel). Also hier das sechste Hindernis, das Buddha fahrlässig übesehen hat:

Meine Seminarteilnehmer.

(Achtung, Triggerwarnung. Nachfolgender Text entspricht definitiv nicht Buddhas Lehre der edlen Rede. Ernsthaft praktizierende stoppen hier oder lesen bitte erst am Ende wieder weiter.)

Die Archetypen auf einem Vipassana-Meditationsretreat

Ich habe in meinem Yogaweg schon einige Retreats besucht. Neben Yogischen Prinzipien basierten manche davon auch auf Buddhas Lehren. Sie waren irgendwie alle anders. Doch eine Gemeinsamkeit gibt es: Die verschiedenen Teilnehmertypen. Die da wären:

1. Die Meditationsmaschine

Häufig ein Er, muss aber natürlich nicht (so wie alle nachfolgenden Geschlechterrollen hier austauschbar sind). Selbst am fünften Tag ist noch kein einziges Zucken festzustellen. Er sitzt kerzengerade, nichts, wirklich nichts bewegt sich. Auch nicht seine Gesichtsmuskeln. James Cameron hat sich seiner bedient, als er den Terminator basierend auf seiner Anatomie und Disziplin entwarf. Bei der Gehmeditation werden die Schritte in einer Präzision ausgeführt, dass jeder Herz-Chirurg sein Skalpell vor Demut hinlegt. Natürlich bleibt er in Pausen auf seinem Kissen sitzen, und auch nach der letzten Meditation, wenn schon alle Lichter gelöscht sind.

2. Die Streberin

Bewaffnet mit Putzmittel, Scheuerlappen und Handtuch putzt sie auch abseits der Arbeitsmeditation in den Pausen die Fenster, Duschen und Klos. Unscheinbar huscht sie durch die Gänge auf der Suche nach diesem einem Staubkorn oder Haar der Hauskatze.

3. Der ich bin zu cool dafür Typ

Es nieselt und hat sieben Grad? Natürlich wird die Gehmeditation barfuss im Freien absolviert. Tänzerisch, locker, leicht. Ihr habt Probleme mit der Veranstaltung hier? Schaut mich an, wie ich es lässig mache. Ich bleib einfach auch mal für ne Session weg, ich muss das hier nicht mitmachen.

4. Die 68 lebt Frau

Klischees existieren, damit sie gelebt werden. Lange graue Haare, lustlos zusammengebunden. Frisur ist patriarchisches Diktat. Schlabberpulli, Schlabberhose, Schlabbersocken. Nachhaltigkeit, Funktionalität und Bequemlichkeit first. Sieht man irgendwie auch an der Körper- und Sitzhaltung (wenn man heimlich spickt). Ob Ho-Chi-Minh auch Buddha gut fand?  

5. Die Super-super-achtsame

Hei, kein Problem! Natürlich kannst Du am Buffet nochmal das eine Quinoa-Korn zurücklegen und dafür darüber meditieren, ob Du jetzt eine oder doch lieber zwei Oliven auf den Tellern legst. Aber natürlich gaaaaaaaaanz achtsam. Lass Dir Zeit, wir sind schliesslich hier auf einer Mission. Und die zwanzig hinter dir aufs Essen wartenden (inklusive mir fast explodierendem Nervenbündel) können sich ja derweil auch in der Achtsamkeit üben und ihre Gedanken beobachten, während ich dieses eine Salatblatt noch ganz vorsichtig korrekt auf meinem Teller drapiere. Wobei. Will ich tatsächlich soviel Salat essen oder ist es mein Geist, der den Gedanken produziert?

6. Der ältere Herr

Etwas gebrechlich, ganz zart, zündet er vor jeder Sitzung eine Kerze der Statue an und verneigt sich. Er ist sehr nah an

7. Die gelassen Lächelnde

Sie sitzt einfach da. Sie geht einfach. Sie isst einfach. Lächelnd. Mit sich zufrieden. Im Frieden. Douze points. Germany Zero Points.

8. Das Leiden Christi

Jeder Schritt ein Schlürfen. Der Blick traurig. Die Körperhaltung gebeugt. Der Körper in viele Schichten warmer Kleidung eingepackt. Die Matratze wird abends in den Seminarraum gelegt. Die anderen im Mehrbettzimmer sind zu laut. Verglichen mit ihr, muss Jesus am Kreuz frohlockt und gestrahlt haben. Dafür macht sie in aller Seelenruhe mit dem allerletzten Rest aus dem Heisswasserdispenser erst ihre Wärmeflasche und dann Thermoskanne voll. Und somit den Wasserspender leer. Egal, Tee am Abend führt ja eh nur zu nächtlichem Harndrang, trinke ich also besser nichts mehr.

9. Der Trottel

Untersetzt, Glatze, Kugelbauch. Faselt beim Eintreffen irgendwas von «ich bin ja in meiner Achtsamkeitslehrerausbildung und brauche noch einen Nachweis für ein Meditationseminar, deswegen bin ich hier». Eigentlich ist er kein Trottel. Sondern die grösste Herausforderung seit Chong Li im Endkampf gegen Jean Claude van Damme in Bloodsport. Er rotzt, schnäutzt, niesst, schnupft, was das Zeugs hält. Natürlich kommt er erst auf den letzten Drücker (oder gerne auch, wenn die Tür schon zu ist) und setzt sich erstmal lautstark ächzend und stöhnend hin. Um dann nach ein paar Minuten zu beginnen, sich episch einzurichten. Das Sitzkissen aus 30 cm auf den Boden plotzen lassen? Wie? Warum denn nicht? Die Decke ausschütteln, dass der Luftstrom dich fast vom Kissen haut? Die Geräusche werden nur durch das ununterbrochene Rotzen, Schnäutzen, Niessen und Schnupfen übertönt. Diese Geräusche enden endlich nach 20 Minuten – wenn er sich hinlegt um laut schnarchend, gurrend, röchelnd, nach Luft japsend, zu schlafen. Dafür sucht er selbst am fünften Tag noch hartnäckig den Augenkontakt wie Karlson vom Dach, der leider leider im Sportunterricht wieder nur als Letzter gewählt wurde. Er ist der König des Vipassana-Retreats. Der Lehrmeister schlechthin.

10. Der einzig wahre: ich

Natürlich kann ich besser meditieren. Natürlich hab ich mehr Wissen und Substanz. Und natürlich bin ich achtsamer als ihr alle zusammen.

Die Prozesse des Geistes wahrnehmen und unterbrechen

Oder vielleicht doch nicht? Verloren in den mentalen Prozessen und tiefen Mustern und Prägungen meines Geistes erkenne ich, dass ich nonstop bewerte. Dass mein Geist alles andere als ruhig oder gar friedlich ist. Dass ich, obschon ich zehn Jahre praktiziere, immer und immer wieder in alte Geschichten der Ablehnung, Bewertung, Überheblichkeit falle.

Beim Brechen des Schweigens sehe ich die Meditationsmaschine lächeln. Wir führen ein wunderschönes Gespräch über unsere Herausforderungen während der Woche und im Leben.

Die Frau mit dem Putzdrang bedankt sich in der Gruppe, dass sie das machen durfte, da ihr dieses Putzen Struktur und Halt gab. Ich schäme mich in diesem Moment zu Tode.

Der Barfussmann ist ein Musiker der ganz liebevoll, respektvoll und achtsam über sich, sein Leben und die Musik spricht.

Die von mir titulierte Leidende hat ihre Matratze nicht wegen den Störungen der anderen in den Seminarraum gelegt – sondern, weil sie durch ihren Husten die anderen stören würde. Ein hartnäckige Entzündung plagt Ihr Auge.

Die in Wollsachen gekleidete Frau berührt mich in der Feedbackrunde zutiefst über ihre ausgesprochenen Herausforderungen und ihr ständiges Bemühen, dranzubleiben und nicht aufzugeben.

So wie es die lächelnde Frau tut, der ältere Herr und sehr viele in der Runde tun.

Für einen kurzen Moment finde ich auch Frieden mit Chong Li, als er über sein Schicksal spricht.

Aufhören zu bewerten und bei mir bleiben

Ich bin jetzt ganz klein. Und gleichzeitig von einer liebevollen Güte und Wärme umspült, die von all den anderen Menschen zu mir kommt.

Buddha gibt uns viele Hinweise, wie wir mit unseren Herausforderungen umgehen können.

Wir können üben, unsere Gedanken zu erkennen und zu sehen. Wir können versuchen, darüber zu reflektieren, was geschieht. Oder wenn das nicht möglich ist, bewusst etwas anderes denken, und sei es nur, dass die Banane krumm ist (okay, ich denke, das hat er so nicht genau gesagt).

Und er empfiehlt, immer wieder zu unserem Körper zurückkehren, da er eine recht hohe Festigkeit und Verdichtung aufzeigt. Im Gegensatz zu unseren sehr flüchtigen Gedanken. Wir können so auch versuchen, die Wechselwirkungen des Geistes mit dem Körper wahrnehmen, oder gar benennen, was gerade ist.

Oder uns auch Fragen stellen:

Ist es wahr? Ist es der richtige Zeitpunkt, das zu denken? Ist es hilfreich, das zu denken?

Die Antworten darauf waren für mich eindeutig. Ich versuche, mir immer wieder liebevoll zu vergeben, dass mein Geist Menschen so verurteilt. Denn jedes Verurteilen eines Menschen ist auch ein Stück weit Verurteilung meines Selbst.

Schliesslich sind wir alle miteinander verbunden. Und können voneinander lernen. Und wir können versuchen, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Jeder für sich. Und idealerweise zusammen.

Ich übe weiter.

Yoga und Meditationsteilnehmer Stefan

Yoga und Meditations-Weekend mit Stefan (keine Angst, nicht so streng wie im Vipassana) 12/13. Oktober im Appenberg, nahe Bern. Jetzt informieren

>